»Wir tun nichts und reden entsetzlich viel.«
(Varvara Michajlnova)
»Es fällt mir schwer, zu glauben,
dass es einen Menschen gibt, der es wagt, er selbst zu sein.«
(Suslov)
Eine Gruppe von Stadtbewohnern verbringt den Sommer (oder dauert es schon viel länger?) in einer Gegend, in der sie sich nicht zu Hause fühlen. Man vertreibt sich die Zeit mit kleineren Ausflügen, Beziehungskrisen und gelegentlichen Theateraufführungen. Die umliegende Gegend ist pittoresk, aber gleichzeitig etwas vermüllt und heruntergekommen, was einerseits eine Atmosphäre des Experiments, der Avantgarde und des Vorübergehenden verspricht, hingegen dem Ordnungssinn und der eigenen Herkunft geschuldet störender Missstand ist.
Ein Ensemble unterschiedlicher Generationen trifft aufeinander, umkreist drei Paare in Ehen, gescheitert zwischen finanziellen Sorgen und Langeweile: Selbst Kinder einfacher Leute, verspüren die Protagonisten, Anwälte, Ingenieure, Dichter, Ärzte und Ehefrauen, in ihrer brüchig-bürgerlichen Existenz einen Abgrund: Eine unüberbrückbare Distanz zu dem, was heute zeitgenössisch »Welthaftigkeit« genannt werden kann. Auf die einfachen Leute der Gegend nehmen sie so wenig Rücksicht, wie diese ihnen mit Unverständnis und leiser Verachtung begegnen. Am Ende sind es die Frauen, die nach neuen unkonventionellen Wegen suchen.
Gorkis Theatertext entsteht aus Fragmenten eines komplexen Geflechts von Abhängigkeiten und Beziehungen, die flüchtige Begegnungen zeigen und die Verkettungen und Verwicklungen der Figuren in ihren inneren und äußeren Zuständen entfalten. Ansichten, Gefühle, Lebenslagen werden teils im Vorübergehen leichthin erfasst, dann in blitzhafter Scharfstellung schmerzlich auf den Punkt gebracht. Wie ein roter Faden bildet sich aus den Situationsskizzen die Frage heraus: Gibt es einen Prozess der Emanzipation, oder bleibt nur Ausbruch und Flucht, oder steht am Ende nur die persönliche Katastrophe.
»… geistig verarmt, verirrt im Dunkel von Widersprüchen, immer lächerlich und kläglich in ihren Versuchen, ein behagliches Eckchen zu finden und sich darin zu verbergen, fährt die [Behauptung eigener] Persönlichkeit ständig fort, sich zu zersplittern, und wird psychisch immer unbedeutender …«
(Maxim Gorki)
Eine gewisse Wut liegt Gorkis Text zugrunde, die ihn aktuell für die Gegenwart macht. Seine Charaktere werden erfasst von einem Schrecken vor der unausbleiblichen Zukunft, der in all ihrem Suchen und ihren uneingestandenen Wünschen deutlich wird. Getrieben von ruheloser Sehnsucht - haltlos verbraucht und zerschlagen: hysterisch wendet sich der Einzelne von seinen Idealen ab, die er gestern noch hatte, und huldigt bereits heute deren Gegenteil.
"Datchniki" (dt. "Sommergäste") entsand 1904, als die russische Revolution 05 bereits ihr Heraufkommen ankündigte. Angesichts des von ihm erhofften und mit "freudigem Gruß" angekündigten "Menschen der Zukunft" nimmt sich für Maxim Gorki der bürgerliche Geistesmensch als überholtes, nutzloses Modell aus.
Als psychologisch-realistisch geprägtes Stimmengewirr schwärmerischer Intellektueller - gezeichnet von postrevolutionären Erschütterungen - ließ Peter Stein seine »Sommergäste« in einer Bearbeitung von Botho Strauß vor 40 Jahren an der Schaubühne »in der Asche des Aufstands stochern«.
Heute, da die Phrasen der politischen Erneuerungshoffnung und die damit einhergehende Angst, vom Fortschritt abgehängt zu werden, in die alltägliche Sprache und Ausformulierung des privaten Lebensentwurfs eingedrungen sind, zeigt sich, dass die Dialoge - dieser uns eigentlich fremden Menschen - den eigenen Sprech- und Denkgewohnheiten näher sind, als uns lieb sein kann. Mitunter scheinen Gorkis Charaktere Wiedergänger unserer selbst zu sein.
Zum fünften Mal macht sich die Initaitive theaterboxring berlin-lichtenberg auf, die unmittelbare und entferntere Umgebung und Lebensrealität mit theatralen Mitteln an ungewohnten bzw. an sich theaterfremden Orten zu befragen. Gorkis Text lässt sich als Vorlage lesen zu aktuellen Umbrüchen, zwischen gefühlter "Gentrifizierung" und "Prekarisierung" eines Stadtviertels und seiner Bewohnerinnen und Bewohner.
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